Übersetzung des türkischsprachigen Artikels “Bir isnadin akibeti”, den Achmed Schmiede als Entgegnung auf Semih Yasicioglus Vorwort zur türkischen Ausgabe, Hürriyet Verlag, Istanbul 1971, verfasst hatte. Darin wurde behauptet, dass Yusuf Vezir Chemenzeminli der Autor von “Ali und Nino” sei.

Türkische Originalversion dieses Textes.

English Translation of this text.

Die Folgen einer Unterstellung

Von H. Ahmed Schmiede

Gern möchte ich diesen Beitrag mit einem türkischen Sprichwort beginnen: Die Kerze des Lügners brennt nur bis Sonnenuntergang. (Vgl: Lügen haben kurze Beine) Aber die Behauptung, die ich hier zu widerlegen beabsichtige, möchte ich ungern als Lüge abstempeln. Eine Lüge liegt vor, wenn jemand absichtlich eine falsche Behauptung aufstellt. Doch hinter der Angelegenheit, auf die ich hier zu sprechen komme, steckt vermutlich keine böse Absicht, es handelt sich vielmehr um eine Unterstellung, die in erstaunlich unbedachter, sogar verantwortungsloser Weise in die Welt gesetzt wurde. Man müßte das Ganze als grobe Unachtsamkeit bezeichnen; insbesondere wenn man bedenkt, daß es dabei um zwei Schriftsteller geht, die seit langem nicht mehr

leben und sich daher in keiner Weise rechtfertigen können. Die Opfer dieser Unterstellung sind der Aserbaidschaner Lev Nussimbaum, der einige Werke unter den Pseudonymen Kurban Said („Kurban” bedeutet bezeichnenderweise „Opfer”!) und Essad Bey verfaßt hat, sowie der ebenfalls aserbaidschanische Schriftsteller Yusif Vezir Çemenzeminli.

1971 wurde ich in der Türkei auf einen Roman eines „Kurban Said“ aufmerksam gemacht, der unter dem Titel „Ali und Nino” im Hürriyet-Verlag erschienen ist. Im Vorwort wurde behauptet, dass der Name „Kurban Said“ ein Pseudonym sei, und dass der wirkliche Autor der Aserbaidschaner Yusif Vezir Çemenzeminli ist. Dasselbe Werk erschien später als Fortsetzungsroman auf Deutsch im STERN und kam 1973 in Buchform auf den Markt, was mich als als ausgesprochener Bewunderer der aserbaidschanischen Literatur zugegebenermaßen erfreute. Das Buch fand reißenden Absatz und ich freute mich über diesen Erfolg eines aserbaidschanischen Schriftstellers im Westen – unabhängig vom Inhalt des Buches. Dieser Roman war nämlich auch in einigen anderen westlichen Ländern, darunter England und die USA, in hohen Auflagen erschienen und zum Bestseller geworden.

Allerdings war die in der Türkei erschienene Ausgabe eine Übersetzung. Wie ich hörte, war sie sogar eine Übersetzung aus dem Englischen. Aber was ist das für eine merkwürdige Logik, dass ein Buch eines aserbaidschanischen Autors zuerst auf Englisch gedruckt und danach ins Türkische übersetzt wird? Der Übersetzer Semih Yazıcıoğlu erörtert diese Frage in seinem Vorwort folgendermaßen:

„So wie stürmische Epochen zur Geburt großer Schriftsteller führen, können sie auch zum Anlass für deren Niedergang werden. Auch das Buch ‚Ali und Nino’ und sein Autor Kurban Said sind Opfer einer solchen stürmischen Epoche geworden. Hätte eine aufmerksame Kundin namens Jenia Graman, die in den 1930er Jahren in Berlin als Malerin tätig war, das Buch Ali und Nino , das sie vor 32 Jahren in Wien schon einmal gelesen hatte, in den verstaubten Regalen eines Westberliner Antiquariats nicht wiederentdeckt, wer weiß wie lang dieses Werk und sein seit langem in Vergessenheit geratener Autor noch auf ihre Sternstunde hätten warten müssen. Dieser Zufall beendete aber die Anonymität eines der Literaturgeschichte bisher völlig Unbekannten. Denn als Jenia Graman den Roman ‚Ali und Nino’, den sie im Jahre 1937 in der österreichischen Hauptstadt sah, erneut gelesen hatte, beschloß sie, dieses Meisterwerk umgehend aus der Versenkung ans Tageslicht zu befördern. Sie übersetzte es ins Englische, und die Veröffentlichung des Romans im vergangenen Frühjahr setzte eine der größten Bewegungen der Literaturgeschichte der letzten Jahre in Gang.”

Aber aus welcher Sprache wurde der Roman ins Englische übersetzt? Diesen Punkt berührt der geschätzte Yazıcıoğlu, indem er einen Brief zitiert, den er von einem in den USA lebenden Aserbaidschaner namens Mustafa Türkekul erhielt. In dem Brief heißt es folgendermaßen:

“Es ist ganz sicher, dass ‚Ali und Nino’ im Original auf Aserbaidschanisch verfasst wurde. Danach übertrug Yusif Vezir dieses Werk unter der Anleitung eines deutschen Freundes ins Deutsche. Anschließend reichte er die deutsche Fassung dieses Werkes bei einem Verlag in der österreichischen Hauptstadt Wien ein.”

Aus diesen Notizen geht hervor, daß es sich bei diesem in der Türkei gedruckten Roman um ein Buch handelt, das angeblich auf Aserbaidschanisch verfaßt wurde, dann ins Deutsche, vom Deutschen ins Englische, und dann schließlich ins Türkische übersetzt worden ist. Dennoch behauptet Semih Yazıcıoğlu:

“Weder der Stil des Buches, noch die der Übersetzung zugrundeliegende Sprache, noch die allgemeine Atmosphäre des Werkes lassen irgendeinen  Zweifel zu, dass es auf Aserbaidschanisch verfaßt worden ist.”

Kommen wir nun zu der zentralen Behauptung im Vorwort der türkischen Ausgabe von ‚Ali und Nino’, nämlich, dass sich hinter dem Pseudonym Kurban Said in Wirklichkeit Yusif Vezir Çemenzeminli verbirgt.

“Es waren zwei in Amerika lebende Aserbaidschaner, die die wahre Identität Kurban Saids und seiner Lebensgeschichte an Licht brachten.  Einer von ihnen war Mustafa Türkekul, ein bekannter Literaturkritiker. Er hatte eine Arbeit über die Schriftsteller verfaßt, die in Rußland während der ‚Säuberungen’ im Jahre 1937 umgebracht wurden. Diese Arbeit wurde 1963 in Istanbul unter dem Namen Hüseyin Cavid veröffentlicht. Nachdem seiner Auswanderung nach Amerika, arbeitete er in einem Hotel in Washington als Buchhalter. Der andere Aserbaidschaner war ein Lehrer namens Yusuf Kahraman, der in einem Washingtoner Krankenhaus als Radiologe arbeitete.

Yusuf Kahraman machte seinen Freund Türkekul auf eine in der Washington Star Zeitung erschienene Kritik über ihr Heimatland aufmerksam. Daraufhin kauften sie sich das Buch, steckten eine ganze Nacht lang die Köpfe zusammen und lasen es bis zum Morgen durch. Im Morgengrauen war dann die Geschichte von ‚Ali und Nino’ und ihres unbekannten Autors geklärt. Denn Kahraman und Türkekul hatten begriffen, dass der Roman die Geschichte eines wirklichen Dramas war. Sie erkannten die im Werk erwähnten Straßen, Wege, Plätze, Paläste und sogar die Nachnamen einiger Familien. Das Ergebnis, zu dem die beiden Aserbaidschaner gelangten, war folgendes: ‚Ali und Nino’ war das jahrelang verschollene Werk eines in Aserbaidschan berühmten Schriftstellers. Der Verfasser, der sich hinter dem Namen ‚Kurban Said’ verbarg, war kein anderer als der berühmte aserbaidschanische Schriftsteller Yusuf Vezir, der einige seiner Werke mit ‚Çemenzeminli’ unterzeichnet hatte.”

Also wurde die Geschichte von ‚Ali und Nino’ und seinem Autor innerhalb von einer Nacht „erhellt”. Heute wissen wir, dass in dieser Nacht gar nichts erhellt, sondern dass ganz im Gegenteil das Autoren-Problem nun erst so richtig aufgewühlt wurde, indem man dem armen Herrn Yusif Vezir einen Jahre später aufgetauchten  literarischen Wechselbalg/Bastard___ anhängte, von dem er nichts wusste, und den ihm die Hebamme erst nach Jahren in den Schoß drückte.

Wie wir bereits feststellten, wurde behauptet, dass der Roman ‚Ali und Nino’ angeblich vom Aserbaidschanischen ins Deutsche, oder anderen Quellen zufolge vom Russischen ins Deutsche übertragen wurde. Nachdem ich die türkische Ausgabe gelesen hatte, nahm ich die deutsche Fassung zur Hand. Ich bin selbst Übersetzer und Deutsch ist meine Muttersprache. Es war mir sofort sonnenklar, dass die deutsche Fassung keine Übersetzung, sondern ein Originalwerk ist. Und irgendwie spürte ich, dass mir dieser Stil nicht fremd war. Trotzdem hätte das Werk immer noch von Yusif Vezir sein können. Wieso sollte er es eigentlich nicht mit Hilfe eines deutschen Freundes geschrieben haben?

Auf der anderen Seite hatte Türkekul davon gesprochen, dass ein aserbaidschanisches Original unbedingt vorhanden sein müsse. Aber wo war dieses Original? Ich habe mich mit dem Deutschen Pressehaus in München in Verbindung gesetzt und gefragt, ob etwas über das Schicksal des Originalmanuskriptes bekannt sei. Die dort zuständige Person sagte mir,  man wisse zwar über die Behauptungen der beiden Aserbaidschaner Türkekul und Kahraman Bescheid, dass aber gleichzeitig viele davon überzeugt seien, der Roman sei von einem Lev Nussimbaum verfaßt, einem in Baku gebürtigen Schriftsteller, dessen Vater Jude und dessen Mutter eine aserbaidschanische Muslimin war, der während der Oktoberrevolution nach Europa geflohen war und dort unter dem Pseudonym „Essad Bey“ eine Reihe von Büchern geschrieben hatte.

Es reizte mich nun, das dieses Rätsel umgebende Dunkel zu lichten. Dabei gab es da gar nichts zu lichten, die ganze Wahrheit lag bereits auf dem Tisch! Aber bis ich das erkannte, musste noch etwas Zeit vergehen.

Als ich im September 1973 nach Baku eingeladen wurde, um an der 600-Jahr-Feier zu Ehren des Dichters Seyyid Imadeddin Nesimi teilzunehmen, zog ich in dieser Angelegenheit meinen Freund Prof. Abbas Zamanov zu Rate. Er teilte mir mit, dass dies eine völlig gegenstandslose Behauptung sei, und dass Yusif Vezir ein solches Werk aus wissenschaftlich belegbaren Gründen nicht geschrieben haben könne. (Abbas Zamanov ist Direktor des Lehrstuhls für moderne aserbaidschanische Literatur an der Universität Baku und ist somit ein kompetenter Experte auf diesem Gebiet).[1]

Nachdem ich von seiner Seite diese Auskunft erhalten hatte, dachte ich mir, daß es vielleicht nützlich wäre, die Spur von Essad Bey zu verfolgen und – ich habe mich nicht geirrt!

Es gibt zwei deutschsprachige Romane, die unter dem Namen „Kurban Said“ veröffentlicht sind. Der erste ist das Buch, von dem wir hier reden, das 1937 erstmals erschienene Werk „Ali und Nino”; das zweite das 1938 veröffentlichte „Das Mädchen vom Goldenen Horn”.

In der Absicht, die Beziehung zwischen Kurban Said und Essad Bey aufzuklären, warf ich zunächst einen Blick auf die Kurzbibliographie des jugoslawischen Turkologen Dr. Smail Balic mit dem Titel „Der Islam in Selbstzeugnissen”, die ich der 1969 veröffentlichten Zeitschrift „Al-Islam” hinzugefügt hatte. Als ich entdeckte, daß Essad Bey darin aufgeführt war, schrieb ich an Dr. Balic. Er antwortete mir folgendermaßen: „‚Kurban Said’ ist ein gemeinsames Pseudonym für Baronin Elfriede Ehrenfels von Bodmershof und Leo Noussimbaum.”

Als ich den Namen „Ehrenfels“ las, fiel mir der österreichische Adlige und muslimische Gelehrte Prof. Ömer von Ehrenfels ein, den ich seit vielen Jahren kenne und hochachte. Ich nahm zu Prof. Ömer Kontakt auf und erfuhr auf diese Weise, dass er selbst viele Jahre hindurch Essad Beys (d.h. Leo Noussimbaums) Freund gewesen war, und dass dieser, nachdem er ein paar dokumentarische Sachbücher abgefaßt hatte, sich schließlich der Romanschreiberei  zuwandte und unter dem Pseudonym „Kurban Said“ zu schreiben begonnen hatte. Seinen zweiten Roman „Das Mädchen vom Goldenen Horn” hatte Essad Bey sogar mit Hilfe von Prof. Ömers geschiedener Frau, Baronin Elfriede Ehrenfels von Bodmershof geschrieben und ebenfalls unter dem Pseudonym „Kurban Said“ herausgebracht.

Die schriftliche Antwort, die ich auf die von mir an Baronin Ehrenfels gerichtete Frage erhielt und deren Original sich in meiner Obhut  befindet, lautet wie folgt:

((hier folgte der originale dt. Text, keine Rückübersetzung aus dem Türkischen:))

A-3522 Lichtenau, N.Ö., am 10. Juni 1974

Herrn H.A.Schmiede
BDÜ Sonnenstraße 11
D-8059 Moosinning

Sehr geehrter Herr Schmiede:

Ihnen als Dolmetscher und Übersetzer für Turksprachen, der Baku bereist hat, möchte ich mitteilen, dass KURBAN SAID ein Schriftstellername des aus Baku stammenden Muhammed Essad-bey war, mit dem ich an der Veröffentlichung seines Romanes „Das Mädchen vom Goldenen Horn“ im Jahre 1938 in Wien zusammen gearbeitet habe.

Mit freundlichen Grüßen,

gez. Frida Ehrenfels-Bodmershof

(Elfriede Ehrenfels, geb. Bodmershof)

Somit gibt es keine ernsthaften Zweifel mehr über die Identität von Kurban Said.

Wenden wir uns ein letztes Mal dem türkischen Vorwort zu, das Herr Semih Yazıcıoğlu der türkischen Ausgabe von „Ali und Nino” vorangestellt hat:

“Wenn der Tag gekommen ist, werden auch die anderen Werke von Kurban Said alias Yusif Vezir Çemenzeminli ihren Platz im türkischen Bücherregal einnehmen.”

Trotz all unserer sonstigen Meinungsverschiedenheiten, bin ich, was diesen Wunsch angeht, ganz einer Meinung mit Herrn Yazıcıoğlu. Auch wenn Yusif Vezir Çemenzeminli nicht Kurban Said ist, bin ich mir sicher, dass er als Schriftsteller Ansehen und Wertschätzung verdient, im türkischen Schrifttum sowie auch in der Weltliteratur. Und wer weiß, vielleicht führt eines Tages diese Nacht, in der Türkekul und Kahraman sich den Kopf zerbrachen, auf diese Weise trotz der Widersprüchlichkeit doch noch zu einem brauchbaren Ergebnis.